gesammelte Beiträge von November aus Corona-Zeiten 2021:
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Zweitletzter Sonntag des Kirchenjahres
Buß- und Bettag
Ewigkeitssonntag
1. Advent
Drittletzter So. des Kirchenjahres
(Den Gottesdienst hält Pfarrer Rolf Weiß.)
Liebe Festgemeinde, und ganz speziell: liebe Konfirmandinnen [und Konfirmanden]!
Heute, mit der Konfirmation, geht für den zweiten Teil eurer Gruppe die Konfirmandenzeit zu Ende. Es war eine besondere Zeit – in vielerlei Hinsicht. Das muss ich jetzt gar nicht weiter ausführen. Entscheidend ist: Ihr werdet heute gesegnet, jede und jeder Einzelne von euch. Der Segen ist bei der Konfirmation so wichtig, dass man manchmal von der Konfirmation auch als der »Einsegnung« spricht. Segen – was ist das eigentlich? Was geschieht da?
Wir können beschreiben, was man beim Segen äußerlich wahrnehmen kann. Eine Person legt einer anderen die Hände auf und spricht dazu Worte. Besondere Worte sind es, Segensworte eben. Aber die äußerliche Beschreibung dringt noch nicht tiefer ein in das Wesen des Segens. Denn, so möchte ich es einmal sagen: Die eigentliche Wirkung des Segens ist ein innerer Prozess. Sie hat etwas zu tun mit Erfahrung, Gefühl, Berührung – im übertragenen Sinne –, aber auch mit Erwartung und Sehnsucht. Segen kann tief gehen – oder mich völlig kaltlassen. Je nachdem.
Segen, liebe Gemeinde und liebe Konfirmand*innen, ist mehr als ein paar gesprochene Worte in Verbindung mit einer Geste. Da steht im Grunde eine ganze Welt dahinter. Diese Welt des Glaubens ist anders als unsere Alltagswelt, in der es immer mehr um Leistung geht.
Eure Eltern und Großeltern mögen in Euch ein großes Geschenk sehen, jemanden, für den sie Gott danken, für ein einzigartiges, wunderbares Wesen. Eine ganz besondere Art, die Welt anzuschauen.
Ihr, liebe Konfirmand*innen, habt diese Welt des Glaubens wenigstens ein wenig erkunden können. Ihr seid durch sie hindurch gewandert, an den ersten Unterrichtssamstagen, später am Bildschirm oder bei den Andachten und Gottesdiensten habt ihr darin Entdeckungen gemacht. Ihr habt davon an verschiedenen Stellen ein wenig berichtet, in der Gemeindezeitung, im Gottesdienst.
Und vieles von dem, was ihr in dieser Welt des Glaubens entdeckt habt, passt zu dem, was mit dem Segen heute bekräftigt werden soll. Gott ist immer für einen da. Man ist nie allein. Das gibt einem das Gefühl, geborgen zu sein. Gerade in Zeiten, in denen man in ein tiefes schwarzes Loch fällt. Manche von Euch haben in dieser Welt für sich entdeckt, wie einzigartig jeder Mensch ist. Und so könnt Ihr mit der Konfirmation überzeugt „Ja!“ sagen zu eurer Taufe und diese als Euren eigenen Willen bekräftigen.
Ich glaube, das sind große Schätze, die ihr da gefunden habt. Schätze, die euch einen Halt geben können, wenn die Stürme des Lebens über euch einbrechen und ihr das Gefühl habt, niemand mag euch und ihr macht alles falsch. Diese Zeiten, wo ihr Gefühle dieser Art habt, werden kommen, damit müsst ihr rechnen. Da ist es gut, wenn man nicht den Boden unter den Füßen verliert. Wenn man etwas in seinem Rucksack hat, was einem hilft zu bestehen.
Die Welt des Glaubens: Gar nicht wenige Menschen glauben, diese Welt sei nur etwas für Kinder. »Wo ist denn der liebe Gott?«, fragen sie. »Ich habe ihn noch nie gesehen.«
Aber: »Es gibt in der Welt Geheimnisse, die kann man nicht wissenschaftlich erklären. Man muss sie anders verstehen. Das Thema ›Gott‹ gehört dazu«.
Wenn das stimmt, dann verläuft die Suche nach Gott anders, als viele meinen. Wenn Gott im Letzten ein Geheimnis ist, dann kann man Gott nicht einfach sehen. Dann sind alle unsere Vorstellungen nur Krücken, tastende Versuche, uns dem Geheimnis Gottes zu nähern. Der Mensch, der mit Gott spricht, kann davon erfahren und das weitergeben.
Vielleicht habt gerade Ihr einmal Gelegenheit dazu. Denn mit der Konfirmation dürft Ihr nun Patin/ Pate werden. Wir haben ja beim letzten Unterrichttermin mehr als 20 Aufgaben von Pat*innen entdeckt und zusammengestellt. Sie gehen weit über die Gabe von materiellen Geschenken hinaus. Ich bin sicher, das habt Ihr durch eure eigenen Paten erlebt.
Die Welt des Glaubens geht nicht auf in unserer Welt der Berechnungen, Daten und Fakten. Im Märchen »Der kleine Prinz« – vielleicht der Lehrerzählung schlechthin für uns moderne Menschen – heißt es bezeichnenderweise: »Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«.
Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Die Welt der Wissenschaft ist faszinierend und hat uns viele Fortschritte gebracht.
Aber es gibt Dimensionen unserer Wirklichkeit, die lassen sich mit ihr nicht erfassen. Davon redet die Welt des Glaubens auf ihre eigene, symbolische Weise. Ich wünsche Euch, dass Ihr die Wirklichkeit dieser Welt des Glaubens gespürt habt. Und dass Ihr auch weiterhin Euren Platz in Eurer Kirchengemeinde findet. Dass Ihr dort angenommen werden und Euch wohl fühlt. Dass Ihr dort auch mit Euren Problemen aufgenommen werdet und Hilfe erfahrt.
Uns, den Mitarbeitenden in der Gemeinde und speziell im KU, war es wichtig, euch ein wenig auf den Geschmack zu bringen, euch einzuführen in diese geheimnisvolle Welt, die vielen Erwachsenen ferngerückt ist und nach der sich viele Menschen doch insgeheim sehnen. Der Welt, von der sich so mancher getragen weiß, sich völlig in Sicherheit fühlt und im Frieden.
Wir werden euch heute segnen. In der Schutzgebärde der Hände, die ich über euch halte, kommt zum Ausdruck: Was auch mit euch sein wird, wo ihr auch seid, wie es auch um euch steht: Ihr seid behütet und beschützt. In dieser Hinsicht kann euch nichts zustoßen. Die ganze Welt des Glaubens soll in dieser Geste aufleuchten.
Die Gewissheit, geborgen zu sein in Gott, soll euch tragen, euer Leben lang, was auch kommen mag.
Amen.
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Zweitletzter So. des Kirchenjahres
(Es liegt keine Predigt zur Veröffentlichung vor.)
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Buß- und Bettag
Den Gottesdienst hält Pfarrer Rolf Weiß
Jesaja 11, 1-9
1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.
2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.
3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören,
4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.
5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
6 Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.
7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.
8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.
9 Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.
1. Zerstörte Bäume
Der Text beginnt mit einem Bild der Zerstörung: Ein abgehauener Baum, ein übriggebliebener Stumpf. Damit knüpft Jesaja 11 an das Ende des vorherigen Kapitels an. Dort wird der Großmacht Assyrien von Gott das Gericht angesagt – und zwar in Bildern der Naturzerstörung: „Siehe, die Herrschaft, JHWH der Heere, haut Zweige ab mit Schreckensgewalt. […] Niedergeschlagen wird das Walddickicht mit einem Eisen […]“ (Jes 10,33f. [BigS]).
Sozialgeschichtlich gelesen spiegeln sich darin reale Kriegserlebnisse wider: Rodungen und Baumfällungen als Mittel der Kriegsführung. Das Fällen von Frucht- und anderen Bäumen durch angreifende Truppen kam im Rahmen von Belagerungskriegen sowohl in der Phase der Belagerung als auch in der Zeit nach der Eroberung der betroffenen Städte vor.
Während der Belagerungsphase diente es dem überfallenden Heer nicht nur zur Gewinnung von Bauholz für Rampen und Belagerungsgerät – es stellte zugleich eine psychologisch-propagandistische Kriegsmaßnahme dar, bei der es darum ging, die ohnehin knappen Lebensgrundlagen der Bewohner*innen weiter zu dezimieren und diese zur Kapitulation zu bewegen.
Als Strafaktion nach der Einnahme einer Stadt zielte die Zerstörung von Gärten und Bäumen auf die Schaffung einer potenzierten Todesatmosphäre, die den Besiegten endgültig vor Augen stellen sollte, wer Herr über Leben und Tod ist: Der jeweilige imperiale Herrscher. Wo Bäume umgehauen und Gärten verwüstet werden, ist diese Todessphäre sowohl real als auch symbolisch gegenwärtig, denn Bäume repräsentieren das Leben schlechthin und das bewährte Leben im Angesicht Gottes (vgl. Ps 1).
Diese Weise der Kriegsführung zieht sich durch die Jahrhunderte bis heute. Bekannt ist bei uns etwa, dass „Während des Vietnamkrieges […]US-Soldat*innen etwa 72 Millionen Liter des giftigen Agent Orange und anderer Herbizide auf eine Fläche von 1,5 Millionen Hektar sprühten. Die Wälder sollten entlaubt werden, um die zum Feind erkorene Nationale Front für die Befreiung Südvietnams aufzuspüren und ihre Nahrungsgrundlage zu zerstören. Ganze Ernten wurden vernichtet, was die gesamte Bevölkerung traf. Bilder aus der Zeit zeigen Baumstümpfe, die wie zerschlagen aus dem Boden ragen, und kahle Landschaften.“
2. Eine*r und Alle
Jesaja 11 geht in ein solches Zerstörungsszenario hinein und lässt aus totaler Hoffnungslosigkeit Neues entstehen. Aus dem toten Holz wächst ein Sprössling. Dieser steht für eine neue Form von politischer Führung, die nicht eigener Kraft oder eigenen Taten, sondern der Geistkraft (ruach) JHWHs entspringt.
Die Führungsgestalt ist nicht nur mit Erkenntnis, Weisheit, Unterscheidungs- und Durchsetzungs- fähigkeit begabt – vor allem agiert sie im Respekt vor Gott und in Anerkenntnis Gottes (doppelt! [Jes 11,2.3]). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Recht für die Armen durchsetzt – unbestechlich und unbeeindruckt von der Macht der Reichen: Eine Hoffnung, die Israel von Anfang an mit dem Königtum verbindet, an der allerdings vergangene Königshäuser vor Jesaja gescheitert sind.
Die Gestalt erliegt den Versuchungen der Herrschaft nicht. Vielmehr trägt sie Gerechtigkeit und Treue förmlich auf ihrer Haut (Gürtel [Jes 11,5]).
Wir fragen uns beim Hören der Verse dennoch, ob das Handeln der neuen Führungsgestalt gängigen Idealen von Gewaltfreiheit entspricht. In den in dieser Hinsicht vielleicht erschreckenden Worten „(Sie) wird das Land mit dem Stab ihres Mundes schlagen und mit der ruach ihrer Lippen die töten, die Böses tun“ (Jes. 11,4) steckt jedenfalls die Anerkenntnis dessen, dass es hier ums Ganze geht. Es spricht hier die Überzeugung, dass den Gewalttätigen eine Grenze gesetzt werden muss. Die Formulierungen lassen sich auch so deuten, dass es das Wort Gottes ist, das letztendlich die Gewalttätigen entmachtet. Man muss hier nicht „kriegerisch“ denken.
Wer ist diese Gestalt? Gewöhnlich wird hier eine messianische Königsgestalt gesehen, die die Hoffnungen Israels auf ein gelingendes politisches Gemeinwesen endlich erfüllt. Im Christentum wurde sie oft auf Jesus hin ausgelegt, was im Umkehrschluss zumindest bedeuten würde, dass „der Messias“ immer politisch zu denken ist.
Wenn Jugendliche (zum Beispiel in Bezug auf Jesus) sagen: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass EINE*R die ganze Welt verändern kann“, dann widersprechen Texte wie dieser: Sie machen ganz stark deutlich, dass Einzelne mit ihren Lebensentscheidungen Neuanfänge setzen können und darin die Welt im Sinne Gottes verändern.
Andererseits zielen sie nicht auf exklusive Heldenverehrung – sie wissen, dass das gefährlich ist! Das seltene Bild vom Spross schwankt im Jesajabuch zwischen individueller und kollektiver Deutung (vgl. Jes 60,21 [BigS]: „Dein Volk besteht nur aus Gerechten, auf Dauer sollen sie das Land besitzen, Spross meiner Pflanzung, Werk meiner Hände zum Schmuck.“) Im Textabschnitt selbst weitet sich die Erkenntnis Gottes von dem Einzelnen auf die ganze Erde hin aus (Jes. 11,9). Ähnlich halten Texte wie 1. Mose 1 und Psalm 8 fest, dass alle Menschen königliche Bestimmung haben, während Jesus im Neuen Testament sowohl als (kollektiver!) messianischer Leib als auch als „neuer Adam“ ins Bild gesetzt wird.
3. Imagination des Utopischen
Auf den ersten Blick scheinen die Beschreibung der Gestalt einerseits und die irren Bilder vom Frieden unter den Tieren und zwischen Mensch und Tier andererseits nicht zusammenzuhängen. Wir können davon ausgehen, dass die Neuordnung der „Natur“ (in den Versen 6-8) durch die Neuordnung menschlicher Beziehungen (Verse 1-5) erst ermöglicht wird. Die Verzerrung menschlicher Beziehungen ist die Wurzel aller geschöpflichen Verzerrung. Es ist die menschliche Verletzung der Weisung Gottes, die Feindschaft in der Natur bewirkt.
Die Textpassage malt etwas aus, das geradezu undenkbar ist: Nämlich, dass das scheinbar ewige „Natur-Gesetz“ von Fressen- und- Gefressen- Werden überwunden wird. Die Bibel fordert dazu heraus, jenseits dieser Gesetzmäßigkeit denken zu lernen.
Der Text sagt vielmehr: Wer nicht kämpft, ermöglicht, dass „der Löwe Stroh frisst wie das Rind“, dass Kinder ungefährdet aufwachsen, dass die Bilder des Zerfleischens sie nicht einmal besetzen können. Der Prophet stellt sich eine Welt vor, in der alles von dieser Erkenntnis erfasst wird.
Wie aus dem toten Baumstumpf neues Leben hervorkommen kann, so auch aus Menschen, die der Utopie des friedlichen Miteinanders von wilden Tieren, Lämmern und spielenden Kindern in sich Raum geben: ReichWeiteFrieden.
Amen.
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Ewigkeitssonntag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herm Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde!
Heute am Totensonntag sind wir angehalten, in besonderer Weise über unser Ende nachzudenken. Manch einer steht noch ganz unter dem Eindruck, im vergangenen Jahr einen nahen Menschen verloren zu haben. Eine andere bedenkt vielleicht mit bangem Herzen sein eigenes Ende oder gar, was überhaupt einmal aus uns allen, aus unserer ganzen Welt werden soll. Traurig sein, Mutlosigkeit, banges Fragen und Furcht vor dem, was kommen mag, haben wir heute mitgebracht und stellen es unter Gottes Wort.
Der Bibel sind solche Gefühle und Fragen nicht unbekannt. Ja, sie gibt ihnen immer wieder großen Raum. Ganz ausdrücklich kommen sie in den Klagepsalmen vor. Aber auch in den Briefen des Paulus an seine Gemeinden werden sie immer wieder zur Sprache gebracht.
In unserem heutigen Predigttext schimmern solche Erfahrungen an verschiedenen Stellen durch: Klagen und Weinen, entfremdetes Arbeiten, unerfülltes Leben, vorzeitiges Sterben. Manches davon kennen Sie vielleicht auch.
Hören wir, was der Profet Jesaja seiner Gemeinde geschrieben hat:
[Textlesung!!!] Jesaja 65, 17-19.23-25
Wie die Gemeinde, für die diese Zeilen bestimmt waren, im Einzelnen ausgesehen hat, das können wir heute nicht mehr genau sagen. Sicher ist allerdings, dass sie die Erlaubnis zur Rückkehr aus dem Babylonischen Exil bereits mit Brief und Siegel in der Tasche hatte. Gleichwohl will sich die große Aufbruchsstimmung offenbar nicht einstellen. Vieles von dem Gewaltigen und Herrlichen, was ihnen vollmundig angekündigt wurde, ist irgendwie auf der Strecke geblieben. Allzu schnell hat sich das Volk in einer doch sehr fragwürdigen ,,Normalität” wieder niedergelassen.
Traditionelle Frömmigkeit mischt sich mit neuen Formen des Gottesdienstes, Opferkult mit sozialem Gerechtigkeitsdenken, Gesetzestreue mit kalter Hartherzigkeit bis hin zur Rechtsbeugung. Bürgerliche Religiosität und alltägliches Gewohnheitsrecht haben die Aufbruchsstimmung verdrängt.
Trotz der offensichtlichen Alltäglichkeit in der Gemeinde klingt der Text geradezu pathetisch, Welt und Kosmos umspannend. Aber dieses Große und Grundlegende wird auf die Stadt Jerusalem, auf das relativ kleine Volk Israel herunter projiziert. Jerusalem ist dabei nicht irgendeine zufällig ausgewählte Stadt. Sondern es gilt in der jüdischen Tradition als der Ort, an dem der Messias erscheinen wird, um das Reich Gottes zu vollenden. Das wird dann nicht auf jene Stadt beschränkt bleiben; sondern es wird ausstrahlen in die ganze Welt, hierher. nach Bretten und weit darüber hinaus. Es wird ein neuer Himmel und eben auch: Eine neue Erde werden.
Das neue Jerusalem wird also nicht irgendwo im Himmel zu besichtigen sein, sondern es wird hier in der Welt konkrete Gestalt annehmen. Diese neue Schöpfung wird nicht nur ein Abklatsch der alten sein, eventuell mit ein paar Schönheitsreparaturen und geringfügigen Verbesserungen. Sie wird mehr umfassen als all unser Denken und Fühlen. Der Verfasser beschreibt in diesen Versen, wie dann alles überwunden sein wird, was uns von Gott trennt. Gott kommt uns ganz nahe, zum Anfassen nahe. Er wird unser Nachbar, wohnt mit uns Tür an Tür.
In einem neueren Kirchenlied heißt es: ,,Es kommt die Zeit, in der die Träume sich erfüllen, wenn Friede und Freude und Gerechtigkeit die Kreatur erlöst, dann gehen Gott und die Menschen Hand in Hand.” Die Begegnung mit Gott wird ganz unmittelbar, jede Entfremdung ist aufgehoben, die Zeit des Umherirrens ist vorbei.
Jesaja hat sich diese Bilder nicht aus den Fingern gesogen, einfach seine Phantasie spielen lassen. Er greift Vorstellungen und Überlieferungen auf, die im Alten (und später dann ganz ähnlich im Neuen) Testament auch an anderer Stelle aufgeschrieben sind. Das jüdische Volk weiß sich in seiner Geschichte von Gott geliebt und begleitet.
Und -ohne dass Gott dabei sein auserwähltes Volk vergessen hätte- hat er sich aller Welt gezeigt, hat er sich allen Menschen offenbart. Er wurde selbst Mensch in JX. JX ist die Person, in der Gott sich von uns finden lässt. Sein Bund mit Abraham und dem jüdischen Volk und durch JX mit uns heute ist die Grundlage dafür. Der Gott-mit-uns, der Immanuel, der der Maria verheißen wurde, ist auf die Welt gekommen. Gott hält seine Versprechen.
Sein Leben und Wirken war ein einziger Ruf zum Glauben. Alle Völker sollen es hören, sollen ,,aufwachen”. Durch JX werden wir in den Bund mit Gott hineingenommen und er will unser Gott sein. Er hat es sich nicht einfach auf seinem Thron gutgehen lassen. Er hat seinen Sohn geschickt, damit er all die Sorgen und Schmerzen auf sich nimmt und überwindet, die Menschen hier auf der Erde leiden – bis hin zum Tod. Durch Jesu Leben bekommen wir eine Vorahnung davon, was es heißt: Siehe, ich mache alles neu.
Er hat Kranke geheilt. Und längst nicht alle, die sich für gesund halten, sind es auch. Er hat Trauernde getröstet, Schmerzen gestillt und dem Tod seine Macht genommen. Vielleicht fragt jetzt der ein oder andere bei sich: ,,Warum erzählt der das am Totensonntag?” An dem Sonntag also, den wir uns im Terminkalender für den Friedhofsbesuch freihalten. An dem Sonntag, an dem wir uns im Gottesdienst noch einmal schmerzlich an die Menschen erinnern, die in den vergangenen zwölf Monaten gestorben sind.
Ich erzähle Ihnen das, weil gerade in dieser frohen Botschaft, die in JX für alle Menschen Gestalt gewonnen hat, auch jede unserer Beerdigungspredigten gründet. Weil wir in der begründeten Hoffnung leben dürfen, dass Schmerz und Leid, Trauer und Tod nicht das letzte Wort behalten werden. Die große Neuschöpfung der Welt zeigt sich an den völlig gewandelten alltäglichen Lebensverhä1tnissen. Dabei fällt auf, dass bei Jesaja vor allem das Problem der Arbeit und das Problem der Lebenszeit in den Blick rücken. Für ihn hängt beides offensichtlich zusammen. An den Beispielen von Häuserbau und Weinbau wird die Entfremdung in der Arbeit deutlichgemacht: Das Ausgenutzt werden durch andere.
Für Israel gibt es solche Erfahrungen. In der neuen Welt nun soll das ganz anders werden. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. (V.22f) Dem entspricht die Aufhebung des unzeitigen Sterbens zugunsten einer langen, erfüllten Lebensperspektive. Wer wünschte sich das nicht?
Der Blick wird zuletzt noch einmal geweitet zu einer grundsätzlicheren Sichtweise. Das paradiesische Bild des friedlichen Miteinanders von Mensch und Tier und den verschiedenen Tieren miteinander kann an dieser Stelle unmittelbar einleuchten. Mit dieser grundlegenden Verwandlung der vorfindlichen Welt soll in der Zukunft die ursprüngliche, gute Schöpfung Gottes wiederhergestellt werden.
Ziel des Ganzen ist dabei schlicht die Freude – und zwar auf beiden Seiten. Gott freut sich, und die Menschen tun das auch. Und damit wird die Gottesebenbi1d1ichkeit erreicht, von der in der Schöpfungsgeschichte die Rede ist.
Das Spannende an diesem Text ist für mich, dass er einerseits einen großen und weiten Blick in die Zukunft wirft, bis in die Zeit hinein, die wir „Ewigkeit’ nennen. Und gleichzeitig behält er in seinen Beispielen den einzelnen, konkreten Menschen mit seinen und ihren Problemen ganz deutlich im Blick. Der Einzelne ist hier also eingebettet in das große Ganze. Und dadurch erhält er eine Perspektive, die über den Tag hinaus reicht. Zeit und Ewigkeit berühren sich in jedem einzelnen Menschen, in Ihnen, in Euch, in mir.
Und darum passen diese Verse so gut zum Ewigkeitssonntag heute. Jede/r von uns darf sich, heute in besonderer Weise, eingebettet wissen in die universale Geschichte Gottes mit den Menschen. Wir sind nicht auf uns selbst gestellt mit unseren Fragen und Problemen. Gott ist bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Amen.
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1. Advent
(Den Gottesdienst hält Pfarrer Rolf Weiß.)
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt…
Wer von Ihnen, liebe Gemeinde, kennte diesen Kinderreim nicht?! Vielleicht hat ihn sogar der eine oder die andere von Ihnen heute Morgen schon aufgesagt, als beim Frühstück die erste Kerze am Adventskranz angezündet wurde.
Der Advent hat ja eine ganz eigene, fast eigenartige Prägung. Draußen wird es allmählich kälter. Die Bäume haben schon das meiste Laub verloren. Nebel umwabert die Felder und Straßen.
In den Geschäften in der Stadt kündigt sich das bevorstehende Weihnachten schon seit ein paar Wochen an. Lametta, bunte Kugeln, Kerzen, Backzutaten, Lebkuchen u.a.m. werden angeboten. Lichterketten mit echtem und künstlichem Tannenreisig schmücken die Häuser. Und der Weihnachtsbaum vor der Kirche wurde auch rechtzeitig aufgerichtet und geschmückt. Nur das mit dem Weihnachtsmarkt will dieses Jahr nicht so richtig klappen.
Wenn es schon äußerlich kälter wird, soll es uns wenigstens warm ums Herz werden. Nicht wahr, ein bißchen sehnsüchtig werden wir da alle: Wir sehnen uns dann nach Geborgenheit, nach Wärme durch einen lieben Menschen, aber auch nach dem Duft von Stroh, das wir regelrecht riechen können, wenn wir an die Krippe unter dem Weihnachtsbaum denken.
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt … Heute ist es erst eines. Aber die anderen Kerzen stehen schon bereit. Sie deuten darauf hin, dass der Advent noch weitergeht. Wir leben nicht einfach in den Tag hinein. Sondern wir leben im Blick auf die Zukunft, die uns mit der Geburt von JX verheißen ist. Unser Leben hat einen Sinn, einen Inhalt, ein Ziel: Das Zusammensein mit unserem Herrn. Wir warten auf ihn, weil er uns angekündigt wurde. Wir warten auf ihn, nachdem er schon einmal da war auf Erden. Wir warten auf ihn, weil wir das mit gutem Grund tun dürfen.
Warten, das wissen Sie auch, bedeutet: Es ist noch nicht soweit. Wir sehen es schon, aber es ist noch nicht da.
Nun kann man ja mit Wartezeiten ganz unterschiedlich umgehen. Wir können uns hinsetzen und ‘Däumchen drehen’. Wir können unruhig ‚hin- und her tigern’. Wir können sogar zweifeln, ob das Angekündigte auch eintreten wird. Wir können nachdenken, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Und wir können uns auch ganz einfach auf das freuen, was uns verheißen ist.
So hat der Advent beides an sich: Er will uns zum Nachdenken über unseren Weg anleiten. Darum gilt der Advent seit alters her als Bußzeit. Er ist eine Zeit, in der wir uns klarmachen, wie wir auf die Ankunft unseres Herrn vorbereitet sind. In der wir uns vor Augen führen, was wir falsch gemacht haben.
Aber zum Advent gehört auch die Vor- Freude. Es wird nicht alles so bleiben, wie es ist. Gott kümmert sich um seine Welt. Er, dessen Name „Gott ist unsere Gerechtigkeit“ heißt, wird sein Reich vollenden. Er wird allen Recht und Gerechtigkeit zukommen lassen. Er wird die zusammenführen, die jetzt noch getrennt sind. Er wird denen Heimat geben, die im Augenblick noch nicht wissen, wo sie zuhause sind. Die, die einsam sind, werden Gemeinschaft erfahren. Die, die getrennt sind, werden zusammengeführt.
Woher wir das wissen? Gott hat im Laufe der Geschichte immer wieder Menschen in seinen Dienst gestellt, die weitergesagt haben, was Gott will. So ein Mensch war z.B. der Jeremia, aus dessen Buchrolle der heutige Predigttext stammt.
Textlesung: Jer. 23, 5-8
5 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
6 Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR unsere Gerechtigkeit«.
7 Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«,
8 sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.
Jeremia war ein Prophet. Seine Aufgabe bestand also darin, den Menschen Gottes Willen weiterzusagen. Er hat nicht einfach seine eigenen Einfälle zum Besten gegeben. Profeten gab es damals, also vor fast 2.500 Jahren, viele. Aber die meisten sind für uns nicht greifbar, bleiben namenlos. Darunter gab es auch eine ganze Reihe ‘falscher Profeten’. Solche, die sich bei den Leuten ‚Liebkind‘ machen wollten. Die den anderen Menschen einfach nach dem Mund geredet haben. Die nur das sagten, was die anderen hören wollten, stets mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
Jeremia war da anders. Er hat sich nicht vorgedrängt zu dieser Arbeit. Ja, als Gott ihn berufen hatte, wandte er sogar ein: „Ach Herr, Herr, ich tauge nicht zum Predigen, denn ich bin viel zu jung dafür.“
Umso gewaltiger ist das, was er in Gottes Namen zu sagen hat. Gott stand hinter ihm. Und darum brauchte er sich nicht zu scheuen, seinen Mitmenschen unangenehme Wahrheiten zu sagen. Und das zu einer Zeit, in der es um das Land nicht zum Besten bestellt war. Gerade ein paar Jahre war es erst her, dass ein Krieg zu Ende gegangen ist. Das Land ist geteilt. Der Norden ist von den Babyloniern besetzt, im Süden regiert ein König aus Babels Gnaden.
Viel Handlungsspielraum hatte der nicht, wenn er sich nicht den Zorn der Besatzer im Norden zuziehen wollte. Und dann waren da noch die Abgaben, die Reparationszahlungen, die geleistet werden mussten. Irgendwo musste das Geld ja herkommen. Da muss dann eben die eigene Bevölkerung herhalten. Dass es dabei nicht immer recht und gerecht zuging, ist schnell einsichtig.
Stellen Sie sich einmal vor, wie es da in den Ohren eines solchen Königs klingen muss, wenn da einer wie Jeremia kommt und einfach einen anderen König ankündigt. Einen, der für Recht und Gerechtigkeit eintritt. Einen, der noch dazu aus dem populären Königshaus Davids stammt. Das klingt nach Verrat, nach Aufruhr, nach Aufruf zum Staatsstreich…
Und obendrein weiß Jeremia noch zu verkündigen, dass Gott selbst diesen neuen Herrn einsetzen wird. Er wird all das zustande bringen, was die jetzigen Machthaber nicht können oder nicht wollen: Dem Land Frieden geben, die getrennten Landesteile zusammenbringen, den Flüchtlingen Heimat geben.
Siehe, es kommt die Zeit…, darf Jeremia verkündigen. Er kündigt den neuen Herrn an. Und damit versetzt er die Gemeinde in eine Art Advents – Zeit. In die Zeit, in der die Gemeinde auf den Angekündigten wartet. Wenn Jeremia hier von einem König spricht, dann ist das nicht nur ein Bild oder ein Vergleich. Sondern er meint das ganz wörtlich. Im jüdischen Glauben gehören nämlich Glaube und Politik viel enger zusammen als in unserem Denken. Manche Politiker betonen zwar immer wieder, beides hätte nun wirklich nichts miteinander zu tun. Aber in der Bibel steht das anders. Da werden die politischen Themen angepackt. Da werden auf der Grundlage des Glaubens Lösungen gesucht. Und Gott wird dafür um seine Hilfe gebeten.
Sicher werden wir noch bis zur Ankunft von Davids Spross warten müssen, damit er dann, wenn seine Zeit da ist, Recht und Gerechtigkeit -weltweit und vollkommen- herstellen wird. Aber damit ist auch schon die Richtung angegeben, in die uns unser Weg führen soll.
Darum ist es auch kein Zufall, wenn wir jedes Jahr am 1. Advent die Aktion ‘Brot für die Welt’ starten. Wir würden uns gar nicht lange darüber streiten müssen, wo etwas nicht stimmt auf dieser Welt, wo Mangel herrscht, der nicht sein müsste; wo Unrecht geschieht, das gegen Gottes Willen verstößt; aber auch: wo Menschen geholfen werden kann, die unverschuldet Not leiden.
Vielleicht denken Sie selbst einfach in der kommenden Woche darüber nach, wo es an ‘Brot’ für die Welt fehlt, oder an Hirse, oder an Reis, und was das mit Recht und Gerechtigkeit zu tun hat. Denn vorhin war die Rede davon, dass Advent mit Buße zu tun hat. Und das Nachdenken ist schon ein erster Schritt der Buße – gegen das Vergessen, gegen das Nicht- zur- Kenntnisnehmen, gegen das Nicht- wahrhaben- Wollen.
Und ich bin sicher, beim Nachdenken werden Ihnen Ideen kommen, was zu ändern ist, und auch: Was Sie dabei tun können. Mit Jesu Leben haben wir schon einen Vorgeschmack von dieser Zeit bekommen. Bis er wiederkommt, dürfen wir getrost darauf vertrauen, dass er uns nicht vergisst und im Stich lässt. Er ist bei uns alle Tage, bis an der Welt Ende. Und siehe, es kommt die Zeit, in der er als Christus seinen Advent, sein Wiederkommen mit uns allen feiern wird.
Amen.
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